Sisyphus

Gespeichert von admin am Do., 01.10.2015 - 02:01

Liebe Frau NN,
liebe Angehörigen und Freunde
der Verstorbenen NN

Wir sind hier zusammengekommen, um drei Dinge miteinander zu bearbeiten:

  • Krankheit und Tod des Verstorbenen sind die letzten starken Eindrücke, welche mit ihrer negativen Wucht Ihr jetziges Denken und Leben beherrschen. Das muss bearbeitet werden damit es in Ihnen zur Ruhe kommen kann.
  • Zweitens brauchen Sie den Verstorbenen und seine Geschichte für Ihre Zukunft. Deshalb müssen wir sie so aufbereiten, dass sie zukunftsfähig wird.
  • Und schließlich müssen wir auch von dem körperlichen Leben des Verstorbenen endgültigen Abschied nehmen.

Teil 1: Hilfe für die Hinterbliebenen

Den eigenen Tod stirbt man nur, heißt es, aber mit dem Tod des andern muss man leben.

Wir sind uns einig darüber, dass genau dieses Weiterleben nach dem Tod des anderen die schwerere Aufgabe ist.

  • Diese unsere Aufgabe ist durchaus mit der Aufgabe des alten griechischen Helden Sisyphus zu vergleichen.
  • Diese Aufgabe ist aber auch zugleich ein Schlüssel für das Leben des Verstorbenen.

Es gibt in der alten griechischen Mythologie die kurze Geschichte von dem Sisyphus, der den Tod gefesselt hatte und zur Strafe deshalb immer wieder einen Felsbrocken auf die Spitze  eines hohen Berges hinaufbringen musste  um oben zu erfahren, dass er sofort wieder herunter fällt, sobald er dort angelangt ist.

Diese Geschichte ist sehr zutreffend für Sie,

  • einerseits als Lebensdeutung für den Verstorbenen,
  • und andererseits für uns alle, die wir den Tod in unserem Leben zur Zeit entmachtet haben.

Unser Leben erscheint uns oft wie die Aufgabe des Sisyphus, wie mühen uns unser Leben lang ab und am Ende winkt uns der Tod. Hat das alles überhaupt noch Sinn?
Nein, natürlich nicht. Das Leben ist grundsätzlich sinnlos. Erst wir geben ihm Sinn. Der kann sich sogar von Lebensabschnitt zu Lebensabschnitt verändern.

Aber welches ist die Alternative? Die Alternative dazu ist nach der Sage - und unserer täglichen Erfahrung - der Tod.

Die Sage erzählt uns, dass wir entweder den Tod gefesselt haben – dann müssen wir die Aufgabe des Sisyphus erfüllen oder der Tod wird frei – wie im Falle unseres Verstorbenen, dann zwingt uns niemand und nichts mehr zu dieser Sisyphusaufgabe.

Diese Alternative jedoch wollen wir nicht. Wir wollen weiterleben. Das heißt, uns bleibt keine Wahl, die Aufgabe des Sisyphus ist unsere Aufgabe.

Diese Aufgabe lässt sich nur im Detail lösen.

Genau wie der Sisyphus immer ganz genau hingucken musste, wo und wie er den Felsbrocken wieder ein Stück aufwärts bekommt, genau so besteht der Sinn unseres Lebens darin, dass wir jede kleine Chance, die das Leben uns gibt, wahrnehmen und ausnutzen. Dass wir genau hingucken, dass wir Wahrnehmung lernen.

Im Zen-Buddhismus ist Wahrnehmung die größte und entscheidende Aufgabe des Schülers. Wer ein Meister in der Wahrnehmung ist, wird im Zen überall als Meister anerkannt.

In solchen Verlustsituationen, die jeder Tod mit sich bringt, schaltet die Biologie in uns erst einmal die Wahrnehmung auf ein überlebenswichtiges, reduziertes und nur notwendiges Maß herunter.

Beispiel:
Viele Menschen gehen z.B. von einer Trauerfeier wieder nach Hause und unterhalten sich dann darüber. Immer wieder sagt der eine oder der andere dann: „Nein, das habe ich überhaupt nicht gesehen. So ist das gewesen? Das habe ich gar nicht mitgekriegt!“

Der Sisyphus in unserer Geschichte muss ganz sorgfältig wahrnehmen. Er muss jede Ecke und Kante wahrnehmen und überlegen, wie er den Felsbrocken - ein bisschen links oder ein bisschen rechts - leichter voran – aufwärts - bekommt.

Die Betäubung, die ein Tod mit sich bringt, zu überwinden, ist unsere erste und wichtigste Aufgabe. Wir müssen wach werden, wahrnehmen.

Das Nächste, was wir bei Sisyphus lernen ist, dass wir einfach nur das tun, was anliegt.
Wir versorgen unseren Haushalt, unsere Einkäufe, unsere Besorgungen und unsere Arbeit. Wir konzentrieren uns darauf.

Natürlich hängen unsere Glieder wie Blei an unserem Leib und jede Bewegung kostet uns Überwindung.

Aber wenn wir uns überwunden haben und das Notwendige, das Nützliche und das Wichtige getan haben, erfüllt uns ein stilles Gefühl der Zufriedenheit. Wir haben etwas bewirkt. Wir haben etwas getan. Wir haben wieder eingegriffen in den Lauf der Welt und sind aus der passiven Opferrolle heraus gekommen. Wir haben etwas getan und bewirkt.

Natürlich sind wir auch weiterhin schwermütig und alles das bewirkt keine Wunder. Aber wir haben uns in das weiterfließende Leben eingeklinkt, wir machen wieder mit und der Fluss des Lebens umspült uns wieder.

Drittens lernen wir bei Sisyphus, dass wir zwischen den tiefen gefühlsmäßigen Abstürzen im Laufe der Zeit mal wieder kurzfristig lachen können und dass es Augenblicke gibt, in denen wir nicht an die Sinnlosigkeit der ganzen Lebensveranstaltung denken müssen. Es gibt Momente, in denen die vergehende Schönheit des Lebens, die ganze Pracht der Vergänglichkeit und das Entzücken an den viel zu schnell vergehenden glücklichen Situationen des Lebens, uns gefangen nimmt. Das können und sollen wir genießen.

Auch bei der stets vergeblichen Aufgabe des Sisyphus gab es Augenblicke der Erleichterung und auch schon mal so etwas wie Freude. Er blickte zurück und sah, was er schon geschafft hatte. Dabei war der letzte Meter schon wieder ein schöner Erfolg.

So geht es uns auch. Wenige Male am Tag überkommt uns schon mal ein – wenn auch nur vorübergehendes - positives Gefühl.

Das ist kein Verrat an der düsteren Wahrheit des Lebens. Wir müssen deshalb kein schlechtes Gewissen haben.

Ohne ein positives Lebensgefühl kann man nicht leben.

Zu dieser Aufgabe des Lebens gehört, dass wir unser Tagewerk so vollbringen, dass wir es am nächsten Tag auch noch tun können.  Das geht aber nur, wenn unser Tagewerk uns zufrieden macht, wenn es für uns Erfüllung sein kann, kurz ein gutes Leben ist.

Sisyphus ist in uns allen. Die Götter haben irgendwann den Tod wieder befreit. Solange der Tod in unserem Leben gebunden und gefesselt ist, kommen wir an Sisyphus Aufgabe nicht herum. In N.N. Leben ist der Tod wieder befreit. Er muss Sisyphus Aufgabe nicht mehr erfüllen.

Wir aber wollen die schwere Last noch ein kleines Stück weiter nach oben schieben. Wir geben nicht auf. Wir machen aus allem das Beste. Wir sind unverbesserliche Positivisten. Wir gewinnen allem eine positive Seite ab; denn das brauchen wir für unser Leben wie das tägliche Brot und um unsere Sisyphusaufgabe zu erfüllen.

Die Sisyphusaufgabe des Verstorbenen wollen wir jetzt ganz konkret anhand seiner Lebensdaten und Ihrer Erinnerungen ansehen:

(Es folgt der Lebenslauf des Verstorbenen mit den biografischen Daten (dem Gedächtnis) gemischt mit den Erinnerungen (den subjektiven Einfärbungen).

Abschied

Wir haben das Leben des Verstorbenen mit seinen vielen Leiderfahrungen eingegliedert und plausibel gemacht mit Hilfe der uralten griechischen Sage von Sisyphus.

Wir haben im Detail festgestellt, dass dieses überzeitliche Bild durchaus in vielen Teilen auf das Leben des Verstorbenen zutrifft und wir übernehmen seinen Mut und seine Unermüdlichkeit auch in unsere vielen vergeblichen Bemühungen und machen deshalb einfach weiter.

Wir geben nicht auf, weder uns selbst noch andere. Die Solidarität des Lebens gegen den Tod verlangt das von uns.
Dennoch beschließen wir, dass alles was mit dem Leben und Tod des Verstorbenen zusammenhängt, so in Ordnung ist.

Die gebräuchliche universale Formel in den Trauerfeiern – die uns zum Handeln auffordert - heißt dazu so oder ähnlich:

Wir sind nun aufgefordert unseren Frieden mit dem Leben und Tod des Verstorbenen zu machen.

Während Sie das bei sich selbst bedenken und beschließen, werde ich dem Verstorbenen einen Text von Nikolaus Lenau widmen:

Blick in den Strom

Sahst du ein Glück vorübergehn,
das nie sich wiederfindet,
ist`s gut in einen Strom zu sehn,
wo alles wogt und schwindet.

Oh, starre nur hinein, hinein,
du wirst es leichter missen,
was dir, und soll`s dein Liebstes sein,
vom Herzen ward gerissen.

Blick unverwandt hinab zum Fluss,
bis deine Tränen fallen,
und sieh durch ihren warmen Guss
die Flut hinunter wallen.

Hinträumend wird Vergessenheit
Des Herzens Wunde schließen;
Die Seele sieht mit ihrem Leid
Sich selbst vorüber fließen.

Nachdem wir nun unseren letzten gemeinsamen Weg mit dem Verstorbenen gegangen sind, betten wir nun

NN, geboren am XXX und gestorben am XXX zu seiner letzten Ruhe.

Wir wollen nicht klagen, weil wir ihn verloren haben, sondern dankbar sein dafür, dass wir ihn – wenn auch nur für kurze Zeit - unter uns hatten.

Wir wollen ihn nun mit Blumen und Erde zudecken, damit niemand seine Ruhe stört.

 

Ruhe in Frieden

© Uwe Peters

Trauerreden