Iwan Mironenko

Gespeichert von admin am So., 19.03.2017 - 02:00

Iwan Mironenko, genannt Wanja

 

Iwan Mironenko ist mir als 14jähriger Junge zweimal in meinem Leben begegnet. Dennoch ist er für mich unvergessen und diese wenigen Informationen, die ich hier weitergeben kann, sind so wichtig, dass sie nicht vergessen werden dürfen.

Von seinen Freunden ließ sich Iwan Mironenko „Wanja“ nennen. So hatte seine Mutter ihn in Weißrussland genannt. Immer, wenn ihn jemand Wanja rief, wurde sein vernarbtes Gesicht ein ganz klein wenig weicher und seine „Schüttellähmung“ ließ etwas nach.

Er sprach schnell und kein Mensch verstand ihn. Er stotterte fast bei jedem Wort und konnte wegen Vernarbungen am Kehlkopf und im Mund die Wörter nur unverständlich heraus bringen. Seine Stimmlage war männlich, aber nicht erschreckend tief. Eine Unterhaltung mit ihm war mühsam. Es dauerte lange, bis er seine Wörter verständlich herausgebracht hatte. Ich war jung und er mochte mich. Aber ich hatte nicht die Geduld mit ihm zu reden. Immer wenn er mich sah, strahlte er.

Er war von durchschnittlicher Gestalt und eher am unteren Durchschnitt der Körpergröße angesiedelt und hatte einen sehr stockenden und eckigen Gang, fast schon hölzern.

Meistens hatte er einen Hut auf. Aber im Haus nahm er ihn ab. Ich beobachtete ihn ganz verstohlen und wollte doch nicht neugierig wirken. Aber zwischen seinem vollen dunklem Kopfhaar sah ich relativ kreisrunde Stellen, an denen kein Haar wuchs. Etwa 4 oder 5 solcher Stellen hatte er über den ganz Oberkopf verteilt. Sorgfältig kämmte er sich die Haare über diese kahlen Stellen. Diese kahlen Stellen hatten einen Durchmesser von 3 bis 4 cm.

Er wohnte seit einigen wenigen Jahren in Soltau und hatte tatsächlich dort auch geheiratet. In meiner Familie munkelte man, dass er wohl nur wegen seiner Rente eine Frau gefunden hatte. Sie war wesentlich älter als er und so etwas wie eine Mutter für ihn. Sie regelte auch den ganzen Alltag mit- und für ihn. Er war da zufrieden mit und er war auch ganz liebevoll zu ihr, während das umgekehrt nicht immer so war. Verständlich.

Ein paar Tage war er bei uns und dann fuhren die beiden wieder zurück nach Soltau. Ein oder zwei Jahre später waren sie noch mal bei meiner Oma; denn Opa war schon gestorben. Ich habe nur einen kurzen Besuch gemacht und gemeinsam mit ihnen Kaffee getrunken und war dann wieder weg.

Irgendwann beim gemeinsamen Sonntagsessen, dann waren meistens alle die sich nicht verzankt hatten, zusammen, fragte ich nach Wanja. Meine Familie, sehr einfach strukturiert und dementsprechend sehr wortkarg, erzählte mir, dass sie Wanja aus dem Jahr 1944 kennen würden.

Opa (Ernst Schröder) arbeitete auf der AHLMANN CARLSHÜTTE in Büdelsdorf und man hatte ihn zum Kolonnenführer der Fremdarbeiter in einem bestimmten Arbeitsbereich gemacht. Ein blutjunger Bengel war in seiner Kolonne, eben Iwan Mironenko. Der schmächtige Kerl war bis auf die Knochen abgemagert und Opa Ernst brachte ihm heimlich Brot mit. Iwan betete vor dem Essen. Opa Ernst wurde neugierig. Iwan erzählte, dass er an Gott glaubt. Opa Ernst empfand als Mitbegründer einer Pfingstgemeinde in Rendsburg es als brüderliche Verpflichtung, dem Iwan zu helfen. Als der Winter einbrach und Iwan barfuss lief, weil er keine Schuhe hatte und ihm die Füße erfroren, steckte Opa Ernst ihm ein paar gebrauchte Schuhe zu. Das wurde verraten und die Gestapo holte Opa Ernst ab in ein Lager bei Neumünster. Iwan wurde nach Berlin verfrachtet und dort in einem Gestapokeller, in dem man die Fenster ausgehängt hatte, ohne Essen und Trinken etwa 14 Tage aufbewahrt. Nach 14 Tagen holten ihn die Gestapobeamten raus und wunderten sich, dass er nicht tot war. Vorher hatte man ihn massiv zusammengeschlagen, den Kehlkopf zertrümmert, dem Schädel kaputt gemacht und sogar ein Loch in den Schädel geschlagen.

Wanja erzählte mir dann selbst: „Als ich auf dem kalten Boden lag, konnte ich nichts anderes als beten. Und da kam aus einer Ecke der Kellers ein ganz helles Licht auf mich zu und machte mich ganz warm. Dieses helle Licht hat lange angehalten und dann sah ich den Heiland. Er sagte mir, ich würde nicht sterben. Wie lange das gedauert hat, weiß ich nicht.“

Aber das Licht kam noch einmal oder zweimal, wenn ich kurz vor dem Erfrieren war. Dann haben sie mich rausgeholt und in einen Viehwaggong geschmissen und nach Bergen-Belsen gebracht. Dort haben mich die Engländer dann raus geholt und in einem Lazarett erst einmal notdürftig versorgt und mir etwa zu essen gegeben. Aber das konnte ich nicht vertragen und bekam Durchfall. Aber ganz langsam hat sich mein Magen wieder an das Essen gewöhnt.

Drei Monate später haben sie mich nach England gebracht und habe ich liebe Geschwister im Herrn gefunden, die mir dann weiter geholfen haben.“

In meiner Erinnerung hat sich ein Mann mit einem geschätzten Alter Ende 50 eingegraben. Aber wenn er 1944 blutjung gewesen ist, kann er 1955 nicht über 30 Jahre alt gewesen sein.

Meine Familie konnte mit Wanja nicht viel anfangen. Opa war ja schon tot und Oma mochte so wieso keine Menschen, die ihrem Kommando nicht unterstanden. Meine Mutter erzählte mir jedoch, dass ist der Mann, welcher in England dafür gesorgt hat, dass wir Weihnachten 1947 in der Schneekatastrophe den Sack mit Lebensmittel aus Plymouth bekommen haben. Und später kamen etwa 3 Jahre noch große Lebensmittelpakete zu Weihnachten aus England zu uns.

Dann war funkstille. Plötzlich meldete sich Wanja mit Frau aus Soltau an.

Zwei Jahre später passierte folgendes:

Ich gehörte zur Rendsburger Pfingstgemeinde. Und wie das in diesen Sekten üblich ist, wird das Programm der Gemeinde flächendeckend für den ganzen Freizeitbereich strukturiert und als Angebot mit entsprechender Erwartungshaltung vorgegeben. Das Gemeindeangebot sah wie folgt für mich ans:

Sonntag morgen von 8:30 bis 9:30 Uhr Gebetstunde. 9:30 bis 11:00 Heiligungsstunde, 11:00 bis 12:00 Kindergottesdienst, 15:00 bis 16:00 Freimission (Singen im Park), 16:00 bis 17:30 Evangelisationsversammlung, 18:00 bis ca. 20:00 Uhr Jugendstunde.

Montag 19:30 bis 21:00 Uhr Posaunenchor, Dienstag 19:30 bis 21:00 Uhr Gebetstunde, Mittwoch 19:30 Uhr bis 21:00 Uhr Chorübstunde, Donnerstag 19:30 bis 21:00 Bibelstunde, Freitag frei, Sonnabend Bibelstunde im Flüchtlingslager, welches es damals noch gab.

Ich war im Posaunenchor und im Gitarren- und gemischten Chor (vierstimmig) dabei. Im gemischten Chor sang ich die Stimme: Bass.

Meine Mutter bekam „Fürsorge“ (Sozialhilfe) und ich hatte nur ein Jackett und eine Bügelfaltenhose, aber keinen Mantel. Für „alle Tage“ hatte ich eine Windjacke, die aber über das Jackett nicht drüber zu ziehen war. Unter diese Windjacke passte nur ein Pullover.

Im Herbst 1957 nahm unser Prediger mich nach einem Gottesdienst zur Seite und erklärte mir, dass ich, wenn ich vorne im Chor saß, bitte ein Jackett und einen Schlips anzuziehen hätte, „zur Ehre des Herrn“.

Ich erklärte ihm den Sachverhalt und er meinte, ich sei doch ein so treuer Christ, deshalb solle ich die Sache „dem Herrn Jesus“ vorlegen, der würde schon einen Weg wissen. Er würde mir 14 Tage Entscheidungszeit geben und wenn ich dann vorne nicht im Jackett und Schlips sitzen würde, müsse er mich leider vom Chorsingen ausschließen, bis ich wieder mit Schlips und Jackett dort sitzen würde. Zu den Chorübstunden würde ich zweifellos weiterhin kommen dürfen.

Die tausend Fragen, die in diesem Zusammenhang zu stellen sind, will ich hier nicht diskutieren. Nur soviel sei angemerkt, dass ich tieftraurig und „am Boden zerstört“ nach Hause ging. Ich tat das, was ich gelernt hatte und was mir zur zweiten Natur geworden war, ich betete und erzählte „dem Heiland“ von meiner Not. Jeden Morgen und jeden Abend betete ich um meine Not. Am folgenden Sonntag fastete ich, denn ich hatte gelernt, wenn man fastet, wird die Sache bei Gott dringlicher. Durch den eigenen Nahrungsverzicht kommt mehr Ernst in das Anliegen. Das war für mich als junger Mann besonders schwer, denn ich hatte in der Kindheit viel gehungert. Diesen Zusammenhang habe ich bis heute nicht aufgegeben, denn ich habe ihn vielfach in meinem Leben bestätigt gefunden und auch in der außerfundamentalistischen Literatur außerordentlich oft, wenn auch in anderen Formulierungen, wieder gefunden.

Als ich Dienstag von der Arbeit nach Hause kam, lag ein größeres Paket in der Küche. Es kam aus England und wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, aus Plymouth, jedoch von völlig unbekanntem Absender. Darin war ein Schal, ein grauer englischer Wollmantel mit verdeckter Knopfleiste, ein Seemannspullover und 500 gr. Bohnenkaffee. Ich holte schnell mein Jackett und zog den Mantel drüber. Alles passte wie von einem Schneider nach Maß angefertigt.

Gott hatte mein Gebet erhört und meine Not gewendet. Am Sonntag saß ich mit Jackett und Schlips im Chor und sang zur Ehre Gottes. Unser Prediger sah das als Bestätigung für sich: „Siehst du, Gott erhört Gebete!“

Dieses Erlebnis und einige ähnliche mehr haben mich weiterhin über 16 lange Jahre in dieser fundamentalistischen Sekte fest gehalten. Noch heute finde ich gute Gründe, „den englischen Mantel“ als Beweis der Richtigkeit dieses Sektenglaubens darzustellen. Nur habe ich inzwischen bessere Gründe gefunden, alle herkömmlichen Gottesvorstellungen für mich zu erledigen. Ich bin erwachsen geworden.

Der Eifer dieses jungen, in der Nazizeit fast völlig zerstörten Weißrussen Wanja Mironenko, seinem nur bescheiden helfendem Glaubensbruder Ernst Schröder und dessen Familie etwas Gutes zu tun, hat mich gerettet. Deshalb muss ich alles tun, damit er und seine Geschichte nicht für immer verloren gehen. Homer hat Achill unsterblich gemacht. Ich will mit diesem Bericht Wanja über einige Generationen im Gedächtnis der Menschen fest machen.

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