Fragen eines lesenden Arbeiters

Gespeichert von admin am Do., 01.10.2015 - 01:15

Liebe Frau NN,

liebe Angehörigen und Freunde

der Verstorbenen NN

Wir sind hier zu  dieser Trauerfeier zusammengekommen um uns auf den Verstorbenen und sein Leben zu besinnen und es zu würdigen. Das scheint im Widerspruch zu seinen geäußerten Auffassungen betreffs seines Todes zu sein.

Diesen Widerspruch hat ein Mann kurz vor seinem Tode so zu Papier gebracht:

„Unspektakulär, also ohne nennenswerte Höhen, verlief mein Leben bisher. So wollte ich es auch, bescheiden, unauffällig. Als funktionierendes Rädchen in einem Getriebe habe ich mich gesehen.“

Das ist eine geläufige Volksmeinung die mir sehr oft begegnet und deshalb stelle ich meinen Ausführungen einen Text von Bertolt Brecht voran:

Fragen eines lesenden Arbeiters

Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.

Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon -
wer baute es so viele Male wieder auf?
In welchen Häusern des goldstrahlenden Lima
wohnten die Bauleute?
Wohin gingen am Abend,
als die chinesische Mauer fertig war,die Bauleute?
Das große Rom ist voll von Triumphbögen.
Wer errichtete sie?
Über wen triumphierten die Cäsaren?
Hatte das vielbesungene Byzanz
nur Paläste für seine Bewohner?
Selbst im sagenhaften Atlantis
brüllten in der Nacht, als das Meer es verschlang,
die Ersaufenden nach ihren Sklaven.

Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
Philip von Spanien weinte,als seine Flotte untergegangen war.
Weinte sonst niemand?
Friedrich der Zweite siegte im siebenjährigen Krieg.
Wer siegte außer ihm?

Jede Seite ein Sieg.
Wer kochte den Siegesschmaus?
Alle zehn Jahre ein großer Mann.
Wer bezahlt die Spesen?

So viele Berichte.
So viele Fragen!

B.Brecht, G.W., Bd. 9, S.657

Bertolt Brecht gehört als Schriftsteller, Dramatiker und Lyriker zu jenen Menschen, die auf Seiten der Armen und der Unterdrückten standen und deren Leben in das grelle Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit stellte.

Viele seiner Stücke sind zeitbedingt und werden im Meer der Vergessenheit untergehen. Andere Stücke sind zeitlos. Dazu gehört sicherlich auch unser Text.

Brecht erinnert an die Vergangenheit. Und wenn er zurückgeht in die Geschichte, fällt ihm eine Sache auf, die für uns und den größten Teil der Menschheit ganz selbstverständlich ist:

Die Großen haben Geschichte, sie bekommen Geschichte zuerkannt, während die Kleinen namenlos und geschichtslos im Meer des Vergessens untergehen. Dabei ist Geschichte genau das, was nur Menschen eigen ist.

Brecht erkennt in diesem Brauch - dass die großen Namen aufgeführt werden - einen ganz wesentlichen Mechanismus der Unterdrückung der Menschen durch andere.

Diese Unterdrückung durch "die Großen" setzt sich nach deren Tod gnadenlos fort, teilweise über Jahrtausende. Über Adolf Hitler und Saddam Hussein werden die Geschichtsbücher noch in 500 Jahren zu berichten wissen, aber N.N. wird nicht mal heute in der Zeitung erwähnt.

Dabei stellt sich doch die Frage,

ob die Großen wirklich etwas Großes geleistet haben, und man deshalb ihre Geschichte aufgeschrieben hat, oder ob es nicht anders herum war, nämlich dadurch, dass die Geschichte einiger Menschen aufgeschrieben wurde, wurden sie erst zu den Großen gemacht. (Wir wissen heute wie das gemacht wird. Das Fernsehen gibt uns gute Beispiele.)

Wir können das hier nicht entscheiden. Dennoch bin ich der Meinung, dass die Geschichte des Verstorbenen für Sie von großer Wichtigkeit ist. Sie haben mit ihm zusammen gelebt, Sie waren befreundet, Sie waren bekannt miteinander. Sie sind von ihm geprägt worden und haben ihn geprägt. Er ist somit ein Teil Ihres Lebens geworden.

Seine Geschichte ist mit Ihren Geschichten eng verflochten und deshalb kann und darf sie nicht untergehen im Meer des Vergessens.

Deshalb müssen wir in der Trauerfeier das Leben eines verstorbenen Menschen aus dem episodenhaften und dem impressionistischen heraus holen und zu einer historischen Persönlichkeit werden lassen.

Indem wir uns seine Geschichte erzählen, wehren wir uns gegen alle Unterdrückung und setzten unsere Geschichte – hier die Geschichte Ihres Verstorbenen - gleich mit der Geschichte Alexanders, Konrad Adenauers und Albert Einsteins.

Wir lassen uns nicht unterdrücken. Unsere Geschichte ist für uns viel wichtiger als die Geschichte von Willi Brandt.

Wir wollen die Geschichte des Verstorbenen mindestens in einer kleinen Feierstunde gewürdigt wissen. Wir wehren uns dagegen, das Leben des Verstorbenen würdigungslos und geschichtslos im Meer der Vergangenheit untergehen zu lassen.

Deshalb wollen wir seine Geschichte betrachten und aufarbeiten.

Der Verstorbene hatte viel weniger Macken und Neurosen, als Napoleon. An den Händen Friedrich des Großen klebt unendlich viel Blut.

Alles das findet sich nicht in der Geschichte des Verstorbenen. Aus der Geschichte des Verstorbenen können wir viel mehr für uns selbst übernehmen, als aus irgend einer Geschichte jener Menschen, die uns als "die Großen" überliefert sind.

Und genau diese Geschichte wollen wir uns jetzt erzählen...

(Es folgt der Lebenslauf der Verstorbenen mit den biografischen Daten (dem Gedächtnis) gemischt mit den Erinnerungen (den subjektiven Einfärbungen).

Abschied

Wir haben den Verstorbenen und sein Leben gewürdigt. Auch wenn er selbst es wohl nicht so gewollt hätte, haben wir dennoch in der Befolgung unserer moralischen Pflicht unseren Menschenbruder gegen sich selbst in Schutz genommen und ihm die Würde zuerkannt, die ihm von der Natur aus mitgegeben ist.

Jetzt müssen wir von unserem liebenswürdigen und querköpfigen Menschenbruder für immer Abschied nehmen. Seinen Mut zu seiner eigenen Meinung bewundern wir. Seine Querköpfigkeit tolerieren wir.

Wir sagen innerlich Ja zu seinem Leben und zu seinem Tod.

Die gebräuchliche universale Formel in den Trauerfeiern heißt dazu so oder ähnlich:

Wir sind nun aufgefordert unseren Frieden mit dem Leben und Tod des Verstorbenen zu machen.

Eine Alternative dazu gibt es nicht.

Während Sie das so still bei sich selbst entscheiden, werde ich dem Verstorbenen einen Text eines Geestemünder Arztes widmen. Dr. Konrad Starke schrieb kurz vor seinem eigenen Tod:

Einen Morgen werd ich nicht mehr sehen
und der Tag wird ohne mich vergehen,

und die Erde wird sich weiterdrehen
und es scheint, als wäre nichts geschehen.

Einen Mittag wird die Sonne scheinen,
wird das Leben fließen so wie eh,
Menschen lärmen, Kinder weinen,
doch es freut mich nicht und tut nicht weh.

Einen Abend werdet Ihr erleben
ganz verwirrt und voller Bitterkeit;
ich indes hab mich zur Ruh begeben
- ohne Freude – ohne Sehnsucht – ohne Leid -

Und die Vögel werden weitersingen,
und die Wasser fließen so wie heut,
und des Windes Lied wird ewig klingen
- ohne Anfang – ohne Ende – ohne Zeit -.

 

Wir verabschieden uns hier in der Kapelle von dem Verstorbenen, weil er eingeäschert werden soll:

NN ist am XXX zu uns in diese Welt gekommen und am XXX für immer von uns dorthin zurück –gegangen, von wo er zu uns kam.

Wir wollen nicht klagen, weil wir ihn verloren haben, sondern dankbar sein dafür, dass wir ihn unter uns hatten.

Ruhe in Frieden.

© Uwe Peters

Trauerreden